Holzdraht
In der Zeit von 1920 bis 1976 gab es am Attersee ein seltenes Holzgewerbe, die Herstellung von Holzdraht. Aus astreinen Fichten- und Tannenstämmen wurden feine Holzstäbchen mit einem Durchmesser von 2,2 mm gehobelt und in beachtlichen Mengen nach Frankreich geliefert.
Geschichte
Georg Sterl (1897 – 1966), der Gründervater der Atterseer Holzdrahterzeugung wuchs in Regen im Bayerischen Wald auf. Bei einem findigen Onkel, der dort ein kleines Sägewerk mit Mühle und Landwirtschaft betrieb, konnte er schon als Kind sehen, wie dieser sechs Meter lange Holzstäbchen für die Weltausstellung in Paris hobelte. Zwei starke Männer zogen einen, an einem Strick hängenden Hobel mit einem speziell gelochten Hobelmesser über einen astfreien Fichtenstamm. So entstanden lange dünne Holzstäbchen, die sich für verschiedene Verwendungszwecke eigneten. Schon der Vater Georg Sterls entwickelte einen Hobel, mit dem die Holzdrähte nicht mehr einzeln, sondern mehrere auf einmal aus dem Stamm gehobelt werden konnten. Geliefert wurde an einen französischen Adeligen, namens Ballauph.
Schon als Fünfzehnjähriger musste Georg Sterl in den ersten Weltkrieg einrücken. Vergeblich hatte seine Mutter versucht ihn zu verstecken. Barfuß im Winter 1912 wurde er eingefangen und an die Front gebracht. Von Granatsplittern verwundet kam er vom Krieg heim. Er hatte noch 11 Geschwister und sah in seiner Heimat keine Existenzgrundlage. So zog er 1919 zu einem Onkel nach Keuschen bei Mondsee, der dort bereits Holzdrähte herstellte. Bei der Suche nach geeigneten Holzstämmen kam Sterl an den Attersee.
Beim Pfannermüller in Misling bei Unterach fand er eine aufgelassene Mühle mit einem funktionierenden Wasserrad. Dort bekam er 1920 die Erlaubnis, seine Idee zu verwirklichen, die Wasserkraft zum Hobeln von Holzdraht zu nützen. Georg Sterl baute in der alten Pfannermühle eine Maschine, die über eine Kurbelwelle einen Schlittentisch hin und her bewegte. Auf diesem Tisch wurden die Holzscheite eingespannt und man musste nur mehr den, an einer Stange hängenden, Hobel gegen das Holz drücken und bei jedem Takt vielen acht Holzstäbchen in eine Lade neben dem Tisch.
Der dadurch mögliche, wirtschaftliche Erfolg erlaubte Georg Sterl mit seiner aus Deggendorf stammenden Ehefrau unweit der Pfannermühle ein eigenes Grundstück am Atterseeufer zu erwerben und ein Haus zu bauen.
Mit Beginn des zweiten Weltkrieges, 1938 war Frankreich plötzlich Feindesland und jede Geschäftsbeziehung strengstens verboten. Das Geld für die letzte Lieferung erreichte Georg Sterl nicht mehr. Er musste sich und seine Familie mit anderen Arbeiten durchbringen. So bediente er die Dreschmaschine bei den Bauern und baute Tabakschneidegeräte aus alten Fahrradpumpen mit Schneidemessern. 1941 wurde er zum zweiten Weltkrieg eingezogen.
Nach Kriegsende 1945 suchte Ballauph von sich aus wieder den Kontakt zu Georg Sterl und bezahlte ihm die letzte Lieferung aus der Vorkriegszeit in der neuen Währung, auf den Schilling genau. Die Geschäftsverbindung wurde fortgesetzt und mit der Elektrifizierung wurde die Holzdrahterzeugung auch von der Wasserkraft unabhängig. Sterl baute auf eigene Rechnung eine etwa zwei Kilometer lange Stromleitung von der Trafostation in Stockwinkel bis zu seinem Haus in Miesling um seine Maschinen anzutreiben. Im Winter mussten nicht selten die Leitungsdrähte im Freien mit langen Stangen abgeklopft und von Eis und Schnee befreit werden. Die Sicherheitsvorkehrungen waren noch sehr unterentwickelt, so war es durchaus üblich, mit den Fingern zu prüfen ob Strom da war.
So konnte sich Sterl in seinem eigenen Haus eine Werkstätte einrichten und die Produktion in der Pfannermühle wurde vom Eigentümer, der Familie Schernthaner, alleine weiter betrieben. Somit gab es in Misling am Attersee zwei Holzdrahterzeuger, die beide an Ballauph lieferten. Gelegentlich kam Herr Ballauph aus Frankreich in seinem Jaguar mit Chauffeur angereist um den Kontakt persönlich zu pflegen.
Nach dem Tod von Georg Sterl im Jahr 1966 wurde der Betrieb von seinem Enkel Anton Klausegger bis 1973 fortgesetzt. In der Pfannermühle wurde die Produktion 1976 eingestellt und statt dessen ein kleines Sägewerk errichtet. Günstigere Konkurrenzprodukte machte die Holzdrahterzeugung am Attersee nicht mehr wettbewerbsfähig.
Holzbeschaffung
Von Montag früh bis Samstag mittags wurde in der Werkstätte gearbeitet. Sonntags nach der Kirche war Zeit zu den Waldbesitzern der Umgebung zu fahren um geeignete Holzstämme auszusuchen. Die Fichten- und Tannenstämme mussten sich leicht spalten lassen. Deshalb musste der Verlauf der Holzfaser möglichst gerade sein und durfte nur wenige kleine Äste aufweisen. Meist waren nur Erdstämme geeignet. Die übliche Länge war 6,50 Meter aber auch kürzer, wenn sie schön genug waren. Das Wuchsgebiet der Stämme hat einen Einfluss auf die Eigenschaften der Holzfaser. Die Waldbesitzer kannten die besonderen Ansprüche der Holzdrahterzeuger und benachrichtigten diese sobald sie einen geeigneten Stamm zum Verkauf hatten. Solche Stämme waren selten und erzielten daher etwa das eineinhalbfache des üblichen Holzpreises. Das waren in den 1960er Jahren etwa 1.200 Schilling pro Festmeter und selbst im Vergleich zu 2014 umgerechnet kein schlechter Preis.
Zum Teil wurden die Bäume auch im stehenden Zustand ausgesucht. Probleme ergaben sich häufig daraus, dass die ausgesuchten Stämme bei der Abholung einfach nicht mehr auffindbar waren. Der Säger, der das übrige Holz kaufte, hatte auch diese Stämme „irrtümlich“ mitgenommen und die beschwerliche Suche war umsonst. Schönes Holz war überall begehrt, insbesondere zur Furniererzeugung. Unterstützung erfuhr Sterl in der Nachkriegszeit von der Landesregierung. Als dringend benötigter Devisenbringer wurde das Forstamt der Bundesforste in Steinbach einfach verpflichtet, geeignetes Holz für die Holzdrahterzeuger zu liefern. Jährlich wurden von Sterl allein etwa 50 – 60 Festmeter Stammholz verarbeitet.
Herstellungsverfahren
Die Holzstämme wurden im Attersee am Ufer vor der Werkstätte gelagert. Die Wasserlagerung verhinderte die Bildung von Trockenrissen an der Oberfläche der Stämme. Nach Bedarf wurde sie aus dem See gezogen und in 85 - 145 cm lange Stücke zersägt. Mit Schindeleisen, Keilen und einem schweren Schlägel bzw. Mesl werden die einzelnen Abschnitte in vier oder mehr Teile bzw. Scheiter auf eine tragbare Größe gespalten. Grobe Unregelmäßigkeiten wurden mit einer Hacke zugerichtet.
Die Hobelmaschine bestand im Wesentlichen aus dem Antriebsmotor (5,5 PS), einem Vorgelege mit einer kleinen und einer großen Riemenscheibe zur Untersetzung der Umdrehungen, der gusseisernen Kurbelscheibe mit der Kurbelstange zum Schlittentisch, der sogenannten ´´Stess´´ und den Führungsschienen, auf denen der Tisch vor und zurück gleitet. Die Konstruktion ist auf einem Fundament aufgebaut. Zum Antrieb sind Motor, Vorgelege und Kurbelscheibe mit Lederriemen verbunden. Der Schlittentisch, auf dem die Holzscheiter aufgespannt wurden, bewegte sich mit 25 – 32 Takten pro Minute auf einer Scheiterlänge von etwa eineinhalb Metern hin und zurück.
In Arbeitsrichtung gesehen war der Antriebsteil auf der Rückseite des Bedieners und der Hobel hängte an einer Stange an der Vorderseite. So wurde das Holzscheit beim Hobelvorgang nach rückwärts gezogen und die Zugkraft am Hobel von einer Stange an der Vorderseite zurückgehalten. Der Bediener musste den Hobel mit einer Kraft von etwa 40 – 50 Kilogramm gegen das Scheit drücken und möglichst genau entlang der Holzfaser führen. Am Ende des Scheits wurde der Hobel abgehoben und nach dem folgenden Rückwärtshub wieder auf das Scheit aufgesetzt.
Nach dem Aufspannen eines neuen Holzscheites musste zuerst mit dem Schropphobel, der ein einfaches gerades Messer hatte, eine glatte Fläche gehobelt werden. Anschließend wurden mit dem Holzdrahthobel, auf der linken Seite beginnend, Hub um Hub jeweils acht Holzdrähte abgehobelt. Dieses Messer war so konstruiert, dass oberhalb der Messerschneide ein Hobelspan abgehoben und unterhalb durch kleine Ringmesser acht Holzstäbe ausgeschnitten werden. Diese fallen in eine Lade neben dem Tisch.
Nach 8000 Stäben bzw. 1000 Hüben musste das Hobelmesser nachgeschärft werden. Das war etwa dreimal am Tag. Eine Tagesleistung war zwischen 28.000 und 30.000 Holzdrähte. Nach zwei Wochen oder etwa 350.000 Stück war das Hobelmesser verbraucht und musste neu angefertigt werden. Manchmal brachen durch harte Äste im Holz seitliche Ringmesser weg, sodass pro Hub nur mehr 5 – 7 Stäbe anfielen. Diese Hobelmesser wurden dann bei schlechteren Holzscheitern so lange wie möglich weiter verwendet.
Die Holzdrähte wurden in Bündel zu 280 Stück an einer Seite mit einem Holzspan zusammengebunden (gewiedelt) und über eine Holzstange im Freien zum Trocknen aufgehängt. An sonnigen Tagen war das Holz nach einem Tag trocken und konnte im Vorratslager zum Versand bereitgelegt werden. Um sich das Zählen zu ersparen, wurden Daumen und Zeigefinger so genau zu einem Ring geformt, dass 280 Stück Platz hatten.
Georg Sterl konnte Holzdraht in einer Qualität herstellen, dass bei der nachfolgenden Verarbeitung in Frankreich 95% davon verwendet werden konnten. Im Vergleich dazu konnte Holzdraht von Tschechischen Herstellern nur zu 30% weiterverarbeitet werden, 70% waren Ausschuss der einzeln aussortiert werden musste. Deshalb gab es bei der Abnahme keine Mengenbegrenzung, alles was Sterl produzieren konnte wurde gut und gerne gekauft.
Pro Woche wurde allein von Sterl etwa 1,5 Festmeter Holz verarbeitet und daraus etwa 150.000 Holzdrähte erzeugt. Pro Jahr durchschnittlich etwa 6 Millionen.
Hobelmesser
Ein wesentliches Kriterium für die Herstellung von Holzdraht war die Qualität der Hobelmesser für den Holzdrahthobel. Es gab keine Werkzeugfabrik wo man diese hätte bestellen können. Jedes Messer musste selbst ausgeglüht (angelassen), geschmiedet, gebohrt, zugefeilt und wieder gehärtet werden. Dazu war eine eigene Werkstätte mit Ofen und Werkzeugen nötig. Selbst die Stahlbohrer zum Bohren der Löcher wurden selbst hergestellt, wenn sie niemand liefern konnte. Den geeigneten Stahl zu bekommen war oft sehr schwierig.
Wenn Georg Sterl hörte, dass ein Bekannter in die Schweiz reist, organisierte er die Beschaffung von Feilen und Bohrern von der Schweizer Uhrenindustrie. Auf legalem Weg war es schier unmöglich, diese hochwertigen Werkzeuge nach Österreich zu bekommen.
In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg war Werkzeugstahl Mangelware. So machte Sterl seine Hobelmesser aus Autofedern des Opel-Olympia-PKW. Später wurde Böhler-Stahl verwendet, der jedoch nach wenigen Glüh- und Härtungsvorgängen brüchig wurde. Danach konnte Werkzeugstahl aus Schweden aufgetrieben werden, der die besten Eigenschaften für diesen Zweck mitbrachte.
In einem Glutbett aus kleinen Holzstöckeln wurden 5-6 Messerstähle mit einer Länge von etwa 30-40 cm angelassen, sodass der Stahl weicher und bearbeitbar wurde. Die Glut wurde abends eingeheizt und es dauerte eine ganze Nacht bis die Messer ausgeglüht waren. Die Stahlmesser wurden an einem Ende abgewinkelt und danach in Hobelrichtung 8 Löcher mit 2,2 mm Durchmesser gebohrt. Dazu diente anfangs eine Bohrspindel, die mit einem sogenannten Fiselbogen angetrieben war. Dabei wurde eine Leine um die Bohrspindel gewickelt und an den Enden des Bogens befestigt. Durch hin und her bewegen des Bogens drehte sich auch die Bohrspindel vor und zurück.
Daraufhin musste mit Feilen die genaue Form der Schneide und der Ringmesser zugerichtet werden. Die genauen Winkelmaße und Abstände, sowie die Lochform waren entscheidende Faktoren für die Arbeitsleistung und die Qualität der Ware. So mussten etwa die Messerlöcher oval sein, damit die Stäbchen genau rund wurden. Die richtigen Winkelmaße sorgten dafür, dass der Hobel in das Holz hinein zog und nicht auslief. Eine falsche Messerform verursachte das sogenannte Stoppeln, bei dem die Stäbchen vom Scheit schon wegbrachen, bevor der Hobel ganz ausgelaufen war. Das führte zu einem Leistungsverlust. Zuletzt mussten die Messer wieder gehärtet werden, um möglichst hohe Standzeiten zu erreichen.
Im umfangreichen Fachwissen bis in kleinste Details, vom Holz bis zum Werkzeugbau, lagen jene Geheimnisse, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden konnten. Ein Onkel von Georg Sterl war beim Industriekonzern Posch beschäftigt und konnte manchen Beitrag zur Effizienzsteigerung beitragen.
Vermarktung
Alleiniger Abnehmer des erzeugten Holzdrahtes war die französische Firma Ballauph. In Frankreich wurden die Holzstäbchen überwiegend zu Sonnenschutzrollos verarbeitet, wobei anstelle der Schussfäden Holzdrähte verwoben wurden. Dadurch entstanden Matten, die einen hervorragenden Sonnenschutz boten. Diese Rollos wurden weltweit, überwiegend aber in die Kolonien verkauft.
Zum Teil wurden die Matten auch als Unterlagen für Camembert-Käse während des Reifungsprozesses verwendet. Der Schimmelkäse wurde auf gewebten Holzdrahtmatten durch die Reifekammern gezogen. Dabei mussten diese nach zweimaliger Verwendung entsorgt werden. Reste und kürzere Abschnitte der Holzdrähte wurden als Haltestäbe für kleine Papierfähnchen und für Zuckerwattestäbchen verwendet. Die anfallenden Hobelspäne und Holzreste wurden verheizt.
Bei den alljährlichen Verkaufsgesprächen war die, sich laufend ändernde Parität der Währungen ein wesentliches Thema. Der Schilling war an die starke deutsche Mark gebunden und der französische Franc unterlag einem permanenten Abwertungsprozess. Eine Geldüberweisung aus Frankreich über die Nationalbanken nahm einige Wochen in Anspruch, sodass allein dadurch das Geld an Wert verlor. So versuchte der Französische Abnehmer die österreichischen Hersteller zu überreden, in Franc zahlen zu können. Mit dem Argument, dass sie das Holz auch in Schilling bezahlen müssen, konnten sich diese jedoch erfolgreich dagegen wehren.
Als Preiskalkulation galt die Faustregel, ´´der Stockstamm muss das Holz zahlen´´. Zum Beispiel wurde ein 6,5 m langes Bloch der Länge nach in sechs Teile zerschnitten. Mit dem Erlös für die Holzdrähte, die man aus dem größten Teil davon machen konnte, sollte man das ganze Bloch zahlen können. Prozentuell waren also etwa 20% des Erlöses für den Holzkauf erforderlich und mit den restlichen 80% mussten die übrigen Kosten gedeckt werden.
Hatte ein Stamm einen Festmeter Rauminhalt und kostete 1.200 Schilling, so musste der Gesamterlös für den daraus erzeugten Holzdraht 6.000 Schilling sein, um alle Kosten decken zu können. Wenn also etwa 50 Festmeter pro Jahr verarbeitet wurden, dann kostete das Holz alleine 60.000 Schilling, bei einem Gesamtumsatz von etwa 300.000 Schilling. Mit dem Rohertrag mussten alle übrigen Kosten und der Unternehmerlohn beglichen werden.
Quellen
Anton Klausegger
Manfred Hemetsberger, Nußdorf am Attersee