Nußdorf - Notquartier und Aufbruch
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte der Fremdenverkehr am Attersee eine über den ursprünglichen Sinn hinausgehende Bedeutung. Viele Menschen und Familien verbrachten hier unfreiwillig einen schicksalhaften Lebensabschnitt, der sie an diesen Ort zurückdenken und zurückkehren lässt.
Vom Feriendomizil zum Hauptwohnsitz
Der Zweite Weltkrieg machte viele Familien obdachlos. Darunter auch solche, die zuvor ihre Sommerfrische am Attersee verbrachten. Es war daher naheliegend für sie, ihre Ferienwohnungen für längere Zeit in Anspruch zu nehmen. Für die Einheimischen wurden aus Sommerfrischlern Mitbürger.
Dazu kamen Heimatvertriebene aus Ost- und Südeuropa, teils mitsamt ihren Pferdegespannen, nach Nußdorf am Attersee. Die Heuböden der Bauernhöfe und die Kammern der Knechte und Mägde dienten als Unterkünfte. Jeder auch nur irgendwie bewohnbare Raum wurde zum Notquartier. In das Barackenlager für Kriegsgefangene unterhalb des Wieserbauernhofes zogen Flüchtlingsfamilien ein.
Ein kleiner Bub kam als Kriegswaise mit einem Namensschild um den Hals in Nußdorf an und wurde von der alleinstehenden Schneiderin, Resl Schiemer, bei sich aufgenommen. Es war ein sogenanntes Berlinerkind und hat in Nußdorf seine neue Heimat gefunden. Im selben Haus wohnte die Witwe Birò aus der Familie der Stahlbaudynastie Waagner-Birò in Wien, deren Unternehmen verstaatlicht wurde. Allabendlich genoss die Nachbarschaft ihre Musik auf dem Harmonium, die aus ihrem Wohnzimmer drang.
Die Volksschule konnte den Zuwachs kaum fassen. Für die auswärtigen Kinder wurde im Justihaus eine Mittagsküche, die sogenannte Ausspeisung, eingerichtet. In der Bauernstube des Niedermayrhofes begann der erste Kindergarten von Nußdorf und übersiedelte dann in das Kralowetzhaus der Familie Baumgartinger. Im Raum neben der Schusterwerkstätte von Onkel Bum (der Name kam vom Hämmern bei der Schusterarbeit) betreute dessen Tochter, die Tante Berta die Kinder des Ortes.
Vom Zusammenbruch zum Aufbruch
Die Kinder von damals erinnern sich an die Besonderheiten dieses Lebensabschnittes zurück. Sie wuchsen nicht wohlbehütet auf, sondern genossen mangels Zeit zur Beaufsichtigung eine Freiheit, die aus heutiger Sicht schwer vorstellbar ist. Diese Freiheit barg Gefahren, trotzdem wurde sie nicht als unsicher erlebt und nennenswerte Unfälle gab es kaum.
Kisten voller Gewehrmunition der deutschen Wehrmacht tauchten die Kinder aus dem See heraus. Mit einer Zange wurden die Kugeln entfernt, das Pulver auf einen Haufen geschüttet und angezündet. Die leeren Patronenhülsen knallten aufregend, wenn man sie aus respektvoller Entfernung ins Feuer warf. Die Kinder lernten schnell Gefahren zu beherrschen. Jeder lernte vom anderen und wem ein Missgeschick passierte, der wurde als „Patschgaggerl“ ausgelacht. Das war für Kinder ein überzeugendes Motiv, höchste Vorsicht anzuwenden. Kriegsrelikte sowie die Jeeps, Panzer und Waffen der amerikanischen Besatzung wurden als faszinierendes Spielzeug erlebt. Die Besatzungssoldaten hatten ihren Spaß mit den Kindern und verteilten manchmal Süßigkeiten, die es sonst nirgendwo gab.
Der Straßenverkehr war noch spärlich, aber umso interessanter. Stundenlang saßen die Kinder an der Straße, zählten die Autos und bestimmten die Marken. An Sonntagen im Sommer konnten es schon 200 Autos und mehr sein. Es blieben manchmal Holzvergaserautos stehen und baten um Papier zum Einheizen. Die Autowerkstätte Lenzenweger in Seewalchen am Attersee war bekannt für Umbauten auf Holzvergaserantrieb. Benzin, Diesel und Petroleum war kaum zu bekommen und teuer. Am Kaufhaus Frank-Wiesinger in Nußdorf war am Rand der Bundesstraße eine Tankstelle angeschlossen, wo mit einer Handpumpe Benzin aus 200-Liter Fässern gepumpt werden konnte. Die Pumpstation war eine runde Säule mit dem bekannten gelben Muschelsymbol von Shell oben drauf und hatte eine versperrbare Doppeltüre an der Vorderseite. Die Nußdorfer Feuerwehr baute einen herrenlosen VW-Kübelwagen der deutschen Wehrmacht zu einem Löschfahrzeug um. Später geschah das Selbe mit einem amerikanischen CMC-Militärfahrzeug.
Wöchentlich kam ein Wanderkino nach Nußdorf. Im Saal des Bräugasthofes wurden von Herrn Bernhaus Filme vorgeführt. Als Vorspann war die "Fox tönende Wochenschau", scherzhaft als „Fox trönende Knochenschau“ bezeichnet, mit mehr oder weniger aktuellen Nachrichten zu sehen. In aller Regel wurden die Filme durch mehrere Filmrisse unfreiwillig unterbrochen. Vor den Fenstern des Saales rauften sich die Kinder, um durch Spalten im Vorhang einen Blick auf die Leinwand zu erhaschen.
Die kleinen Handwerksbetriebe und das bäuerliche Leben steckte voller Geheimnisse, Überraschungen und faszinierender Technik, welche den Forschungstrieb und die Eigeninitiative beflügelte. Unvergessen ist der Dachboden vom Frank-Kaufgeschäft, in dem ungezählte Ladenhüter aus Jahrzehnten lagerten. Das Einkaufen war für Kinder nicht so einfach wie in einem Selbstbedienungsladen, in dem die Artikel samt Preisangabe zu Tausenden vor der Nase liegen. Man wusste zwar genau wie der Wunschartikel aussah, aber oft nicht den Namen dafür. Erst nach einem langen Frage- und Antwortspiel wusste der Verkäufer hinter der Verkaufsbudel wonach er suchen musste. Noch komplizierter wurde es dann, wenn dafür das spärliche Taschengeld nicht reichte.
Wenn sich die Kinder bei den Eltern blicken ließen, wurde ihnen gleich eine Arbeit angeschafft, denn jede Hand war gefragt. Es gab aber auch "Kinderarbeit“, die begehrter war als in der Schule zu sitzen, wie etwa das Viehhüten. Es wurden Lagerfeuer gemacht, Kartoffel gebraten, Räuber und Gendarm gespielt und allerlei Späße getrieben. Wer je dabei war, denkt mit Wehmut an diese Zeit zurück. Die Kinder entwickelten eine unbändige Phantasie und hatten auch Möglichkeiten, mit einfachsten Mitteln ihre Träume zumindest teilweise aus Eigenem und ohne Hilfe von Erwachsenen zu verwirklichen.
Manche Zugezogene siedelten sich dauerhaft im Attergau an. So auch der Friseur Julius Vermes, der aus Ungarn geflüchtet war und dann bis zu seiner Pensionierung in Nußdorf einen Frisörsalon betrieb. In der Gemeinde Attersee entstand die Oberbachsiedlung, in Seewalchen die Ortschaft Rosenau. Bedeutende Arbeitgeber waren die Holzverarbeitungsbetriebe, die Schuhfabriken Oswald und Kastinger und vor allem die Papier- und Zellwollefabrik in Lenzing. Bis Mitte der 1950er Jahre verließen viele Menschen und Familien ihre Notquartiere wieder und bauten sich in aller Welt neue Existenzen auf.
Familiengeschichte Kapretz mit Berührungspunkten zum Attersee
Eine Familiengeschichte, erzählt vom Berliner Architekten Dipl. Ing. Sebastian Kapretz, schildert einen persönlichen Rückblick in dieses ungewöhnliche Stück Zeitgeschichte. Die Beziehungen der Familie Kapretz zu Nußdorf am Attersee reichen bis zu den Anfängen des Fremdenverkehrs am Attersee zurück. Einen Angelpunkt bildet Eugen Freiherr von Ransonnet, der Erbauer der Villa Ransonnet und Pionier des Nußdorfer Fremdenverkehrs.
Der Großvater von Sebastian Kapretz, General Eugen Kapretz, hatte nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Abspaltung Jugoslawiens von der K.u.K.-Monarchie, der Pension wegen, seinen Einsatzort Laibach über Klagenfurt und Graz verlassen. Zuvor heiratete er 1910 in zweiter Ehe Elisabeth Winkler, eine der drei Winkler Töchter des Winkler-Klans. Dieser hatte im 18. Jahrhundert im 3000-Seelendorf Hietzing, einem aufstrebenden Erholungsort westlich von Schönbrunn an Fuße des Wienerwaldes, begonnen, die Apotheke „Zum Auge Gottes“ einzurichten. In vierter Generation saß der Apotheker Josef Winkler mit Eugen Freiherr von Ransonnet auf der Schulbank, woraus eine lebenslange Freundschaft entstand.
Die drei Winkler-Töchter haben Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Nußdorf eine Ferienwohnung gemietet, soweit erinnerlich im alten Haberl’schen Bauernhaus. Tante Riesa Hampel, geb. Winkler, war mit dem Maler Sigmund Walter Hampel (1867-1949) verheiratet und wohnte bis in die 1950er Jahre in der Ransonnet Villa. Im Park der Villa hatte Tante Ulli Vierthaler, geb. Hampel, die erste österreichische Tamponfabrik unter technischer Mitwirkung von Vater Dipl. Ing. Hans Kapretz errichtet, welche jedoch nach Kriegsende einem Brandanschlag zum Opfer fiel. Tante Grete, geb. Winkler, verheiratet mit dem Donaudampfschifffahrtskapitän Glöckner, war viel zu Besuch. Die Großmutter von Architekt Sebastian Kapretz und Witwe von General Eugen Kapretz - jüngste Winklertochter - wohnte im Haus Zaniboni, heute Seestrasse 6, später beim Gruber (Hiaslbauer) und folgte 1959 ihrem Sohn, DI Hans Kapretz nach Köln, wo sie bald danach verstarb.
Sebastian Kapretz ist der zweite von den vier Kapretz Buben (Burli, Basti, Butzl, Petzi) und wurde 1943 in Potsdam geboren, wo der Vater stationiert war. Vater Hans Kapretz (geb. 1913) hatte, wie der Großvater, General Kapretz, die Offizierslaufbahn eingeschlagen, konnte jedoch nicht an die Front, weil der Ariernachweis der Mutter, Margit, (geb. Seefehlner, 1915 in Wien) nicht beigebracht werden konnte. Die Suche konnte bis zum Ende der NS-Diktatur hinausgezögert und somit ihre jüdische Abstammung verheimlicht werden.
Die Wiener Wohnung, Negerlegasse 2, fiel den Bomben zum Opfer und so bot sich nach dem „Zusammenbruch“ die Ferienwohnung der Großeltern im Obergeschoß des Justihauses als Hauptwohnsitz für die Familie Kapretz an. Obwohl Hans Kapretz als Offizier der Wehrmacht anfangs zu Straßenbauarbeiten herangezogen wurde, fand er rasch seiner technischen Ausbildung entsprechende Erwerbsmöglichkeiten. Sein Holzvergaser-Wagen gehörte zu den ersten Automobilen in Nußdorf nach dem Krieg. Unvergessen sind die Haushälterin - Kapretz Paula gerufen - der Zuckerrübensirup, der handgenähte Pyjama mit Schnellscheißklappe und die Ohrfeige nach einer Verspätung zur Mahlzeit aufgrund einer Flaute am See beim Segeln mit Tante Muschi, der Englischlehrerin.
Die Familie Kapretz hat ein Jahr nach der Geburt des jüngsten Buben 1954 Nußdorf verlassen. Die Krankenhauskosten nach einer Beckenthrombose und einem einjährigen Krankenhausaufenthalt der Mutter haben damals ihr gut gehendes Geschäft in der Kaigasse in Salzburg ruiniert.
Sebastian Kapretz besuchte nach der Volksschule in Nußdorf das Gymnasium in Vöcklabruck. Die Schulfahrt erfolgte mit dem Bus, die Heimfahrt mit Bahn und Schiff. Nach der Übersiedlung nach Weinheim in Deutschland kam er in das Domgymnasium Freising. Die ersehnte Ausbildung im Werkschulheim Felbertal von 1956 bis 1963 musste Sebastian seinen Eltern abtrotzen. Sein Wunsch, diese ungewöhnliche Schule in einem abgelegenen Gebirgstal bei Mittersill zu besuchen, wurde bei einer Begegnung mit Alexej Stachowitsch am 7. Weltjamboree der Pfadfinder 1951 in Bad Ischl geweckt. Stachowitsch fasste beim Jamboree gemeinsam mit einem Kollegenteam den Entschluss zur Gründung dieser einzigartigen Schulform, die Gymnasium und handwerkliche Ausbildung kombiniert. Diese Idee ließ auch den damals achtjährigen Sebastian Kapretz nicht mehr los.
Er schloss diese Schule 1962 mit der Maschinenschlosser-Gesellenprüfung und 1963 mit der Matura ab. Dem folgte das Studium an der Technischen Universität, Fachrichtung Architektur, in Berlin. Seine Vorliebe für Technik und Kreativität wurde schon früh in seiner Nußdorfer Nachbarschaft gestärkt. Von der Tischlerei Wiesner, in der er sich gerne aufhielt, bekam er seine ersten Schier mit Stahlkanten und die Gerberei Kölblinger steckte voller faszinierender Maschinen und chemischer Vorgänge.
Dass wir in „Freiheit pur" aufwuchsen, lässt mich immer wieder nach Nußdorf zurückkehren. Mit diesen Worten fasst Sebastian Kapretz seine Zeit in Nußdorf am Attersee zusammen, die er noch immer als eine der schönsten in seinem Leben empfindet.
Spuren am Lebensweg
Berührungspunkte mit dem Attersee hinterließen Spuren in Menschenschicksalen. Aus Urlaubern wurden Dauergäste, Zweitwohnsitzer und manchmal sogar Einheimische. Beziehungen entstanden und vergingen. Im Artikel Nußdorfer Sommerfrische ab 1870 sind verschiedene Aspekte touristischer Entwicklung dargestellt. Der Artikel Nußdorfer Dorfleben 1860-1960 beschreibt die Lebensumstände in dieser Zeit.
Bildergalerie
Quellen
- Sebastian Kapretz, Berlin
- Sammlung Großpointner, Nußdorf
- Manfred Hemetsberger, Nußdorf